40.4.1
Abhängigkeitsentwicklung und narzisstischer Missbrauch
PsychotherapieAbhängigkeitsentwicklungNach
Dreyfus und Haug (1992) werden unter dem Begriff des „narzisstischen
Narzisstischer MissbrauchMissbrauchs
Missbrauchnarzisstischer in der Psychotherapie“ alle Interaktionen und Beziehungskonflikte
Therapeutische Beziehungnarzisstisch-kollusive zwischen Therapeut und Patient zusammengefasst, die primär dem Wunsch des Therapeuten nach narzisstischer Gratifikation dienen und die Selbstentwicklung des Patienten verhindern oder erschweren. Dreyfus und Haug verwenden in diesem Zusammenhang das Konzept der
narzisstisch-kollusiven BeziehungNarzisstische Kollusion und führen mit dem Terminus der Kollusion als entscheidendem Pathomechanismus die Überschreitung definierter Grenzen ein, wie etwa bei einem Übermaß an interpersoneller (nichtsexueller) Intimität, einer grenzenlosen Empathie oder eines grenzenlosen gegenseitigen Verstehens sowie unendlich andauernder Psychotherapien. Die Aufgabe der entsprechenden Grenzen zwischen Therapeut und Patient ist dabei notwendigerweise mit einer narzisstischen Allmacht aufseiten des Therapeuten und einer Selbstaufgabe aufseiten des Patienten assoziiert.
Das Szenario der narzisstischen Kollusion kann aber auch zu einer therapeutisch inadäquaten Distanzierung des Therapeuten von seinem Patienten führen, etwa wenn dieser narzisstische Wünsche nicht mehr hinreichend erfüllt. Gleichzeitig kann der Therapeut seine eigene Wirksamkeit und Reichweite deutlich überschätzen und dem Patienten eine z. B. auf der Grundlage der Schwere seiner Symptomatik indizierte psychopharmakologische Behandlung vorenthalten, was juristische Implikationen und Schadenersatzprozesse nach sich ziehen kann (vgl. z. B. Thiel et al. 1998). Die Überbewertung des eigenen Behandlungsverfahrens ist zumeist mit der nicht hinreichenden Kenntnis und projektiven Abwertung alternativer Behandlungsverfahren – zum Schaden des betroffenen Patienten – verknüpft.
Eine Sonderform des narzisstischen Missbrauchs
Psychotherapeut(en)ökonomischer Missbrauch kann der
ökonomische MissbrauchMissbrauchökonomischer durch Psychotherapeuten darstellen.
Reimer und Rüger (2006) weisen darauf hin, dass sich mit diesem Themenbereich bisher nur sehr wenige Autoren beschäftigt haben, und stellen das Konzept von Dührssen (1962) heraus, das zwischen bewussten Formen des Betrugs und der Korruption und einer „oral-ausbeuterischen Gegenübertragung“ differenziert. Sie beschreibt damit eine nur partiell bewusste neurotische Fehlhaltung des Therapeuten, gut laufende oder positiv besetzte Therapien artifiziell zu verlängern und so die Abhängigkeitsthematik, die jeder psychotherapeutischen Situation innewohnt, zu perpetuieren. In diesem Bereich sind Phänomene zu diskutieren, die mit einer inadäquaten – auch ökonomisch motivierten – Größenvorstellung von Therapeuten verbunden sind, wenn etwa während der Ausbildung in Selbsterfahrungsgruppen die Therapiekosten vorab zu zahlen sind, wenn Therapeuten ihre Patienten verpflichten, die jeweiligen Urlaubszeiten anzupassen oder wenn eine nicht mehr von den Krankenkassen bezahlte Behandlung privat weiter zu finanzieren ist.
40.4.2
Sexueller Missbrauch in der Psychotherapie
Sexueller MissbrauchSexueller Missbrauchin der Psychotherapie hat in der Psychotherapieentwicklung eine weit zurückreichende Vorgeschichte. Bereits in der frühen Entwicklungsphase der Psychoanalyse kam es zwischen Carl Gustav Jung und seiner Patientin Sabina Spielrein zu einer langen Episode komplexen Machtmissbrauchs (Caretenuto 1986; Cremerius 1987). Otto Rank und Rene Allendy (Gründer der französischen psychoanalytischen Gesellschaft) missbrauchten die in ihrer Kindheit sexuell missbrauchte Patientin Anais Nin während aufeinanderfolgender psychoanalytischer Behandlungen (Krutzenbichler 2005). Ernest Jones wird sexueller Belästigung gegenüber Kindern bezichtigt und missbrauchte offensichtlich Analysandinnen (Krutzenbichler und Essers 2002). Für Sandor Ferenczi sind ebenfalls mehrere Episoden sexuellen Missbrauchs gegenüber Patientinnen verbürgt (Krutzenbichler 2005).
Wie Krutzenbichler (2005) zu Recht bemerkt, wird erst ab der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre durch einen gesamtgesellschaftlichen Prozess die Erkenntnis über sexuelle Missbrauchsdelikte generell evident und damit die Kritik an der Psychoanalyse bzw. der psychodynamischen Psychotherapie und ihrem Umgang mit diesem Thema lauter. Erst seit der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre findet sich eine verschärfte Auseinandersetzung, welche die ursprüngliche Ambivalenz Freuds zum Thema realer Missbrauch und Fantasie zu integrieren und zu Veränderungen der Therapietechnik in der Behandlung von Opfern sexuellen Missbrauchs weiterzuentwickeln versucht. Diese Auseinandersetzung wird mittlerweile in allen Theapieschulen geführt (Linden und Strauß 2012).
Nachdem in den USA bereits über etwa 20 Jahre empirische Untersuchungen zu sexuellem Missbrauch in der Psychotherapie und Psychiatrie unternommen wurden, erfolgte in Deutschland eine erste umfassende empirische Auseinandersetzung mit diesem Thema erst Anfang der 1990er-Jahre (
Becker-Fischer und Fischer 1995). Nach Auffassung von
Fischer und Becker-Fischer (2000) muss dabei von einer jährlichen Inzidenz von wenigstens 300 neuen Fällen im krankenfinanzierten ambulanten Bereich und von zusätzlich 300 Fällen bei den nicht von den Krankenkassen getragenen Therapieformen ausgegangen werden. Valide Schätzungen für den im engeren Sinne psychiatrischen Bereich und das sozialpsychiatrische Versorgungssystem psychisch und geistig behinderter Menschen liegen derzeit nicht vor.
Nach übereinstimmenden Angaben verschiedener Autorengruppen sind die Täter zu mindestens 90 % männlich und die Betroffenen zu wenigstens 90 % weiblich, wobei Tätercharakteristika das gesamte Spektrum von sexuellem Missbrauch auf neurotischer Konfliktverarbeitungsebene bis hin zu ausgeprägt dissozial und narzisstisch gestörten Therapeuten umfassen. Bis zu 10 % der in empirischen Studien untersuchten Therapeuten sollen als Täter in Erscheinung treten, wobei etwa 50 % als Wiederholungstäter imponieren. Sexueller Missbrauch in der Psychotherapie ist als ein zumeist schleichender Prozess zu verstehen, dem eine längere Phase narzisstischen MissbrauchsTherapeutische Beziehungnarzisstisch-kollusiveNarzisstischer Missbrauch durch den Therapeuten vorausgeht und in dem es zu einem schrittweisen Rollentausch zwischen den Beteiligten kommt. Oft werden initial durch den Therapeuten eigene individuelle Konflikte nicht in ihrer Relevanz für den therapeutischen Prozess hinreichend reflektiert und das Abstinenzparadigma dadurch aufgegeben, dass der Therapeut zunehmend über eigene Probleme und Schwierigkeiten berichtet.
Die besondere Dramatik in den Folgen für die betroffenen Patientinnen wird heute im Wesentlichen auch darin gesehen, dass es sich bei den Übergriffen überzufällig häufig um Reinszenierungen früherer sexueller und/oder gewalttätiger Übergriffe handelt, die auch das latente Bedrohungsszenario mit Einschüchterungen und Verschiebung von Verantwortlichkeit und Schuld einschließt (Gebot der Geheimhaltung), das die Ersttäter im nichtpsychotherapeutischen Feld charakterisiert. Durch die interpersonelle Bindung innerhalb einer Psychotherapie können insbesondere bei in ihrer Biografie besonders vernachlässigten Patientinnen Wünsche nach Anerkennung und Nähe wachgerufen werden, die – nicht nur bei einer Vorgeschichte sexuellen Missbrauchs – auch eine sexuelle Konnotation haben können.
In § 174c StGBSexueller Missbrauchin der PsychotherapieStraftatbestand hat der Gesetzgeber für den Bereich des sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Beratungs-, Behandlungs- oder Betreuungsverhältnisses auch für den psychotherapeutischen Bereich explizit Stellung bezogen, indem er sinngemäß schreibt: Wer sexuelle Handlungen an einer Person, die ihm wegen einer geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung einschließlich einer Suchtkrankheit zur Beratung, Behandlung oder Betreuung anvertraut ist, unter Missbrauch der so definierten Beziehung vornimmt oder an sich vornehmen lässt, wird mit Freiheitsstrafe oder mit Geldstrafe bestraft. Der Versuch ist strafbar.
Die hieraus abzuleitenden ethischen Implikationen und Handlungsanweisungen für den Verlauf von Psychotherapien lassen sich klar umreißen. Kommt es in psychotherapeutischen Prozessen zu einer für den Therapeuten nicht mehr im Rahmen der Übertragungs-/Gegenübertragungskonstellation interpretier- und/oder kontrollierbaren erotischen und/oder sexualisierenden Verstrickung, so ist die Therapie vor einer sexuellen Handlung indirekter oder direkter Art zu unterbrechen und der Prozess zum Gegenstand einer umfassenden SupervisionSupervisionsexueller Missbrauch zu machen, in der die zugrunde liegende Problematik des Therapeuten und seiner Patientin bearbeitet wird. Erst nach abgeschlossener Bearbeitung mit einem Supervisor kann die Therapie u. U. fortgesetzt werden, wobei eine ggf. indizierte zwischenzeitliche Weiterbehandlung der Patienten zu gewährleisten ist. Ist es bereits zu einem sexuellen Übergriff gekommen, liegt ein Straftatbestand vor, der nur dann von Gerichten im Sinne „mildernder Umstände“ bewertet werden kann, wenn eine unverzügliche Selbstanzeige des Täters sowohl gegenüber der Strafbehörden als auch gegenüber der Ärzte- bzw. Psychologenkammer erfolgt und sich eine differenzielle Supervision oder Therapie des Täters anschließt.
Sexueller Missbrauchin der Psychotherapiepsychische FolgeschädenDie
psychischen Folgeschäden durch sexuellen Missbrauch in der Psychotherapie sind für die Betroffenen beträchtlich, sodass auf empirischer Grundlage bereits ein professionelles Missbrauchstrauma konzeptionalisiert und Hinweise für die Durchführung von Folgetherapien erarbeitet wurden (
Fischer und Becker-Fischer 2000). Sexueller Missbrauch in der Psychotherapie ist dabei als ein destruktiver Angriff auf die Grenzen der Betroffenen aufzufassen und ähnelt dabei den Charakteristika kindlich-inzestuöser Missbrauchssituationen. Die Konsequenzen für die Liebes- und Beziehungsfähigkeit der Betroffenen, aber auch für ihr Verhältnis dem eigenen Körper und dem Selbstkonzept gegenüber sind als beträchtlich aufzufassen. Bei etwa 25 % der Betroffenen wird eine initiale „Hochphase“ beschrieben, die offensichtlich mit einer zu diesem Zeitpunkt stattfindenden Idealisierung des Therapeuten und der Beziehung zusammenhängt. Bei deutlich mehr als 70 % der Betroffenen stellen sich danach u. a. Angst, Scham und Schuld, Verlust der Selbstachtung, interpersonelles Misstrauen, suizidales Verhalten, sexuelle Funktionsstörungen oder Symptome einer PTSD ein.
Sexueller Missbrauchin der PsychotherapieFolgetherapienFolgetherapien stellen an den Folgetherapeuten erhebliche Anforderungen. Ein latenter bis manifester Loyalitätskonflikt („Kollege“) mit Infragestellung der psychotherapeutischen Identität kann sich einstellen, der durch die Frage der Glaubwürdigkeit der Patientin und durch eine möglicherweise einzuleitende oder bereits stattfindende strafrechtliche Verfolgung des Täters verschärft werden kann. Zu fragen ist hier:
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Kann ich als Therapeut in klarer Weise zum Geschehen Stellung nehmen?
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Wo liegen Schuld und Verantwortlichkeit?
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Kann ich meine neutrale Abstinenz überhaupt aufrechterhalten?
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Wie verhalte ich mich angesichts möglicherweise in der Therapie auftauchender erotischer Übertragungs-/Gegenübertragungsprozesse?
Fischer und Becker-Fischer (2000) haben für Folgetherapien umfassende Hinweise und Regeln ausgearbeitet, die die im Vordergrund stehende Differenzierung zwischen alter und neuer Therapieerfahrung betonen und eine fortlaufende deklarative Feststellung der Regeln beinhalten, die in der zurückliegenden Therapie gebrochen wurden. Sie empfehlen, ggf. eine „dritte Instanz“ in die Therapie einzuführen, indem etwa in regelmäßigen Abständen ein Kontrolltherapeut oder ein Angehöriger hinzugezogen wird oder eine kombinierte Behandlung mit parallel erfolgender Einzel- und Gruppenpsychotherapie erfolgt. Für den psychotherapeutischen Prozess legen sie ein Phasenmodell zugrunde und empfehlen in Phase I der Behandlung, in erster Linie auf die Erfahrungen der Ersttherapie zu fokussieren und dabei Regeln und Verantwortlichkeiten deklarativ zu erläutern. Für Phase II empfehlen sie, das Trauma der Ersttherapie zu bearbeiten und erst dann die primär relevante psychische Störung ins Blickfeld zu nehmen.