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„Ich“ versus „Selbst“ Selbstvs. IchIchvs. Selbst
(nach Markus und Kitayama 1991)

Dimensionen und Störungen des SelbsterlebensSelbsterlebenDimensionenIntersubjektivitätimpliziteIntersubjektivitätexpliziteSelbsterlebenbasalesBasales Selbst(erleben)Leibliches Selbst(erleben)SelbsterlebenleiblichesSelbsterlebenökologischesPersonales SelbsterlebenÖkologisches Selbst(erleben)Reflexives Selbst(erleben)Soziales Selbst(erleben)Existenzielles Selbst(erleben)Narratives Selbst(erleben)SelbsterlebenpersonalesSelbsterlebenreflexivesSelbsterlebensoziales Schizophrenie/schizophrene Störungenals basale SelbststörungDepression/depressive Störungenbasale SelbststörungenDepression/depressive Störungenaffektive ResonanzstörungAutismusHypomentalisierungSchizophrenie/schizophrene StörungenHypermentalisierungIch-Störungenschizophrene
Dimension | Phänomene | Störungen (Beispiele) |
Basales Selbst | Präreflexives SelbstempfindenMeinhaftigkeit des Erlebens | |
|
Selbstvitalität, LebendigkeitSelbstaffektivitätBasale Selbstkontinuität | Basale Selbststörungen in der Schizophrenie und DepressionDissoziative Zustände |
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Sensomotorische SelbstkohärenzSelbsturheberschaft (agency) Selbstwirksamkeit | Schizophrene Ich-Störungen |
|
Zwischenleiblichkeit, Interaffektivität | Affektive Resonanzstörung in schweren Depressionen |
Erweitertes, personales Selbst | Reflexives Selbsterleben | |
|
Perspektivenübernahme | Wahn |
Ich-Bewusstsein, Ich-Demarkation | Transitivismus, Ich-Störungen | |
Rollenidentität („me“) | Depressive Rollenfixierung | |
Selbstwertempfinden | Narzisstische Störungen | |
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Autobiografische Identität | Demenz |
Selbstkonzept (Selbstbild – Selbstwert – Selbstideal) | Fragmentierte Identität bei Borderline-Persönlichkeiten | |
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Selbstverhältnis, Selbstentwurf Selbstaktualisierung, Individuation | Selbstaktualisierungsschwäche beim Typus melancholicus |
Selbst und Intersubjektivität | ||
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Intuitives, präreflexives soziales Verstehen (nonverbale Kommunikation, Zwischenleiblichkeit) | Hypomentalisierung im Autismus |
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Inferenzielles, reflexiv vermitteltes Verstehen (Perspektivenübernahme, Theory of Mind) | Hypermentalisierung im schizophrenen Wahnerleben |
Theorien der sozialen WahrnehmungSoziale KognitionSimulationstheorieSoziale KognitionTheorie-TheorieSoziale KognitionEmpathie- und InteraktionstheorieSoziale KognitionNarrativitätstheorieEmpathie(fähigkeit)frühkindliche Sozialisation
Theorie | Beschreibung |
Simulationstheorie | Unbewusste oder bewusste Simulation bzw. Imitation der wahrgenommenen Zustände anderer und (Rück-)Projektion auf sie |
Theorie-Theorie | Schlussfolgern auf die mentalen Zustände anderer („Mentalisieren“) aufgrund eines erworbenen Wissens über solche Zustände („Theory of Mind“) |
Interaktionstheorie | Unmittelbare Wahrnehmung des Gefühlsausdrucks und der Verhaltensintentionen anderer im Kontext der gemeinsamen Situation (primäre Empathie) |
Narrativitätstheorie | Zuschreibung von Intentionen und Überzeugungen aufgrund sprachlich vermittelter Narrative von typischen mentalen Prozessen |
Selbsterleben und Selbststörungen
Kernaussagen
-
•
Der Begriff des SelbstSelbst stellt eine zentrale Bezugsgröße für die Diagnostik und die psychotherapeutische Behandlung dar. Verschiedene, insbesondere schwerere psychische Krankheiten gehen unmittelbar mit psychopathologischen Störungen des SelbstSelbststörungen einher. Eine Kenntnis der verschiedenen Dimensionen des Selbsterlebens, von der basalen bis zur existenziellen Ebene, ist daher für die diagnostische Einordnung ebenso bedeutsam wie für die zu wählenden therapeutischen Interventionen.
-
•
Darüber hinaus betreffen psychische Störungen generell immer das SelbstverhältnisSelbstverhältnis des Patienten. Sie führen zu verschiedenen Formen der Stellungnahme, sei es des Copings, der Veränderungserwartung, aber auch der Abwehr oder des Widerstands, die für die Psychotherapie zentrale Ansatzpunkte bilden.
-
•
Schließlich sind die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, die Möglichkeit der Selbstbestimmung ebenso wie die Dimensionen von Selbstakzeptanz und Selbstverantwortung essenzielle Voraussetzungen für die Behandlung. Das Selbsterleben des Patienten ist somit Ausgangs- und Zielpunkt aller psychotherapeutischenPsychotherapieSelbsterleben des Patienten Verfahren, unabhängig davon, welche Methoden und Interventionen jeweils zur Anwendung kommen.
9.1
Einleitung
-
1.
Vom Ich zum Selbst: Selbstvs. IchIchvs. SelbstWährend traditionell für das Zentrum des Erlebens und der Persönlichkeit der Ich-Begriff üblich war, ist das Selbst in den letzten Jahrzehnten zunehmend an seine Stelle getreten. Das gilt etwa für die Psychoanalyse – für Freud war das Ich die moderierende Instanz des psychischen Apparats; erst bei Hartmann (1950) und später bei Kohut (1976) setzt sich das Selbst durch – oder auch für die Phänomenologie: Während Husserl noch vom „Ich-Zentrum“ der psychischen Akte sprach, gebrauchen neuere Autoren überwiegend den Selbst-Begriff (Waldenfels 2000; Zahavi 1999, 2005). Darin manifestiert sich eine grundsätzliche Verschiebung der Auffassungen von SelbsterlebenSelbsterlebenund Individualität und IndividualitätIndividualität und Selbsterleben: Anstelle des gleichsam punktförmigen, seiner selbst bewussten, sich autonom und souverän setzenden „Ich“ – erstmals in Descartes' cogito-Satz proklamiert – bezeichnet das SelbstSelbsterlebenBegriffsentwicklung einen vielschichtigeren, erweiterten Grund des Erlebens und der Person. Es erscheint in verschiedenen, zunächst un- und vorbewussten, insbesondere leiblichen Dimensionen und differenziert sich im Verlauf der frühkindlichenKind(er)Selbsterleben Entwicklung zunehmend, bis es sich schließlich zum reflexiven Selbst- oder Ich-Bewusstsein entfaltet (Kap. 9.2.1 f.). Das „IchIchreflexiv gewordenes Selbst“ ließe sich demnach als das reflexiv gewordene „Selbst“ bezeichnen.
-
2.
Relationalität des Selbst: WarSelbstRelationalität das Ich vor allem in Abgrenzung vom Anderen konzipiert, betonen neuere Konzeptionen des Selbst vielmehr dessen grundsätzliche Bezogenheit: Jedes Verhältnis zu sich selbst ist demnach zugleich ein Verhältnis zu anderen, von denen das Selbst affiziert, angeblickt oder angesprochen wird, auf die es reagiert, antwortet und so erst eigentlich zu sich selbst findet. Von der frühkindlichen Bindungsbeziehung bis zur entfalteten Persönlichkeit entwickelt sich die IdentitätKind(er)IdentitätsentwicklungIdentitätEntwicklung im sozialen Kontakt, in der Dialektik von Aneignung und Abgrenzung, von Identifizierung, Rollenübernahme und Individualisierung, in einem fortwährenden Prozess der Interaktion mit der Umwelt. Das Selbst ist somit interdependent; es „überlagert“ sich mit den relevanten Anderen, deren Repräsentanzen wesentliche Anteile des Selbst ausmachen (Abb. 9.1). Dies hat auch Konsequenzen für neuere Theorien der Intersubjektivität oder der sozialen Kognition: Sie gehen nicht mehr von einem in sich abgegrenzten „Ich-Bewusstsein“ aus, das erst auf indirektem Weg (über eine „Theory of Mind“, Mentalisierung o. Ä.) zum fremden, verborgenen Anderen hinfinden muss, sondern von einer primären, vorsprachlichen und zwischenleiblichen Beziehung des Selbst mit anderen (Stern 1998; Gallagher 2008; Fuchs und de Jaegher 2009; Vogeley et al. 2014; Zahavi 2014).
-
3.
Weder Instanz noch Konstrukt: „Das Selbst“ – eine nicht unproblematische Substantivbildung – scheint so etwas wie eine eigene Entität oder Instanz zu postulieren, die irgendwo in der psychischen Organisation einer Person zu finden wäre. Die bisherigen Überlegungen haben schon erkennen lassen, dass der Begriff nicht in solcher Weise verdinglichend verstanden werden darf. Mit dem abkürzenden Terminus „SelbstSelbsterlebenEinheit des Selbsterlebens im Zeitverlauf“ bezeichnen wir im Folgenden einerseits die Einheit des Selbsterlebens im Zeitverlauf, andererseits die personale IdentitätSelbsterlebenpersonale Identität als eine integrierende Organisationsform der Persönlichkeit, die maßgeblich vom Selbstverhältnis geprägt und dabei in fortwährender Wandlung begriffen, also prozesshaft zu denken ist. Jede Fixierung, Hypostasierung oder Verdinglichung ist dabei auszuschließen. Auf der anderen Seite ist das Selbst aber auch kein bloßer Konstrukt- oder Modellbegriff, der sich etwa kognitionswissenschaftlich in ein Ensemble von „selbstbezogenen“ Schemata, Überzeugungen, Einstellungen, Verarbeitungs- und Reaktionsmustern auflösen ließe. Gerade diese „Beziehung zu sich selbst“ wäre nämlich gar nicht möglich ohne ein primäres, präreflexives Selbsterleben, das in jeder Erfahrung mitgegeben ist. Selbstsein ist kein Konstrukt, sondern unsere jeweils grundlegende Realität.
Merke
Der Begriff des Selbst bezieht sich einerseits auf die Einheit des Selbsterlebens im Zeitverlauf, andererseits auf die Entwicklung der personalen Identität über die Lebensspanne hinweg. Er ist nicht substanzialistisch, sondern prozesshaft und relational aufzufassen.
9.2
Dimensionen des Selbst
-
•
das primäre, präflexive oder basale Selbst undSelbsterlebenbasales
-
•
das erweiterte, reflexive oder personale SelbstPersonales Selbst(erleben). Selbsterlebenpersonales
9.2.1
Primäres oder basales Selbst
-
1.
leibliches Selbst
-
2.
ökologisches Selbst
-
3.
primäres soziales Selbst oder Selbst-mit-Anderen
Leibliches Selbst
Merke
Das basale Selbsterleben bedingt die Meinhaftigkeit aller Erlebnisse, ihre Zugehörigkeit zu einem einheitlichen Subjekt der Erfahrung. Es schließt die Dimensionen der Leiblichkeit, Vitalität, Affektivität und der zeitlichen Kohärenz des Bewusstseins ein.
Ökologisches Selbst
Merke
Das ökologische Selbst resultiert aus den sensomotorischen Beziehungen zur Umwelt, die mit dem Erleben der Selbsturheberschaft (agency) und Selbstwirksamkeit (Antworten der Umgebung auf die eigenen Initiativen) verbunden sind.
Primäres soziales Selbst
Resümee
Zusammengefasst verbinden sich im basalen Selbsterleben folgende Komponenten: SelbsterlebenbasalesBasales Selbst(erleben)
-
•
Meinhaftigkeit, Vitalität und Affektivität des Leiberlebens
-
•
Zeitliche Selbstkontinuität
-
•
Sensomotorische Kohärenz, Selbsturheberschaft und Selbstwirksamkeit
-
•
Erleben des „Selbst-mit-Anderen“, vermittelt durch Zwischenleiblichkeit und Interaffektivität
9.2.2
Erweitertes, personales Selbst
-
•
Reflexives Selbst
-
•
Narratives Selbst
-
•
Existenzielles Selbst
Reflexives Selbst
Merke
Das reflexive Selbst beruht auf der Fähigkeit zur Übernahme der Perspektive anderer, die als Selbstbewusstsein internalisiert wird. Damit verbunden sind reflexive Emotionen wie Scham, Schuld oder Stolz ebenso wie das Selbstwertempfinden.
Narratives Selbst
Merke
Das narrative Selbst resultiert aus sprachlich-begrifflichen Selbstzuschreibungen bzw. lebensgeschichtlichen Narrativen auf der Basis des autobiografischen Gedächtnisses. Es enthält damit auch das Selbstkonzept als Gesamtheit von Kenntnissen, Einschätzungen und Bewertungen der eigenen Person.
„‚Das habe ich getan‘, sagt mein Gedächtnis. ‚Das kann ich nicht getan haben‘ – sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich – gibt das Gedächtnis nach.“
Nietzsche (1980: 86)
Existenzielles Selbst
Merke
Das existenzielle Selbst ergibt sich aus dem Selbstverhältnis, der Freiheit der Selbstbestimmung und des eigenen Lebensentwurfs. Die Begriffe der Selbstaktualisierung und Individuation bezeichnen die persönlichen Entwicklungsmöglichkeiten und -aufgaben über die Lebensspanne hinweg.
Resümee
Personales Selbst(erleben)SelbsterlebenpersonalesZusammengefasst ist das personale Selbst durch folgende Merkmale charakterisiert:
-
•
die Fähigkeit, andere als intentionale Agenten zu verstehen und ihre Perspektive nachzuvollziehen (Perspektivenübernahme)
-
•
ein höherstufiges Bewusstsein der eigenen Zustände und Erlebnisse (introspektives, reflexives oder Selbstbewusstsein)
-
•
die Fähigkeit, die eigenen Erfahrungen zu verbalisieren und zu kohärenten Geschichten zu verknüpfen (narrative Identität)
-
•
ein begriffliches und autobiografisches Wissen, ein Bild und ein Idealbild von sich selbst (Selbstkonzept)
-
•
eine Tendenz zur Selbstaktualisierung und Individuation, die sich in übergreifenden Lebensentwürfen und Lebensthemen manifestiert (existenzielles Selbst)
9.2.3
Selbst und Intersubjektivität
Soziale Wahrnehmung
Merke
Soziale Kognition umfasst alle informationsverarbeitenden Prozesse innerhalb eines kognitiven Systems, die der InteraktionInteraktion(en)soziale Kognition und KommunikationKommunikation(sfähigkeit)soziale Kognition mit anderen Personen dienen.
Selbst- und Fremdverstehen
-
1.
Gemäß der SimulationstheorieSoziale KognitionSimulationstheorie gelingt die Fremdzuschreibung auf der Basis der unbewussten oder bewussten Projektion eigener mentaler Zustände auf andere, wesentlich vermittelt durch die unterschwellige Nachahmung ihrer Bewegungen oder Ausdrucksgesten (Harris 1992; Goldman 2006; Gallese 2005). (s. auch Kap. 14).
-
2.
Dagegen wird nach der Theorie-TheorieSoziale KognitionTheorie-Theorie während der Ontogenese ein eigenes Wissenskorpus (Theory of Mind) erworben, das uns über die möglichen mentalen Zustände anderer Aufschluss gibt (Gopnik und Wellman 1992; Carruthers 2009). – Neuerdings wird versucht, eine Vermittlung der Positionen (1) und (2) zu erreichen, z. B. im Rahmen der PersonenmodelltheoriePersonenmodelltheorie (Newen und Schlicht 2009; Newen und Vogeley 2011), die sowohl die Verarbeitung von impliziten und weitgehend unbewussten Informationen als auch explizite und weitgehend bewusste Wahrnehmungen integriert. (s. auch Kap. 14).
-
3.
Nach der phänomenologischen Empathie- und InteraktionstheorieEmpathie- und Interaktionstheorie (Soziale KognitionEmpathie- und InteraktionstheorieGallagher 2001, 2008; Fuchs und de Jaegher 2009; Zahavi 2011) beruht das soziale Verstehen primär auf der unmittelbaren Wahrnehmung der sichtbaren Ausdrucksgesten und Verhaltensintentionen anderer im Kontext der gemeinsamen Situation. Zu diesem empathischen Miterleben tragen zwischenleibliche Resonanzen und koordinierte Interaktionen im Face-to-face-Kontakt wesentlich bei.
-
4.
Die daran anknüpfende NarrativitätstheorieSoziale KognitionNarrativitätstheorie (Hutto 2008; Gallagher und Hutto 2008) führt die erweiterten Formen sozialen Verstehens (Perspektivenübernahme, Sich-Hineinversetzen in andere) vor allem auf sprachlich vermittelte Narrative zurück, durch die Kinder typische Verhaltensmuster und Motive anderer erlernen.
Intuitive und reflexive soziale Kognition
Merke
Sozial kognitive Prozesse laufen entweder intuitiv, präreflexiv und implizit ab (z. B. nonverbale Kommunikation) oder inferenziell-schlussfolgernd, reflexiv und explizit (z. B. narratives Textmaterial, Bildergeschichte).
9.3
Selbst und psychische Krankheit
9.3.1
Allgemeines
-
•
Das Selbsterleben ist von der Krankheit betroffen, der Patient erfährt sich als ihr „Opfer“, d. h. als im Selbstvollzug des alltäglichen Lebens mehr oder minder stark beeinträchtigt. Dies gilt in unterschiedlichem Maß für alle psychischen Störungen.
-
•
Die psychische Krankheit manifestiert sich als solche in einer Störung des Selbst, sofern nämlich das Selbsterleben etwa in seinem affektiven Kern, in seiner Kohärenz, seiner Abgrenzung von der Umwelt o. Ä. betroffen ist.
-
•
Das Selbst reagiert und antwortet in unterschiedlicher Weise auf die Krankheit: es nimmt zu ihr Stellung (Jaspers 1973: 345 ff.).
Selbsterleben
Selbststörungen
Selbstverhältnis
Beispiel
So manifestiert sich eine DepressionDepression/depressive Störungenpersonales Selbstverhältnis nicht nur in typischen Phänomenen wie Antriebsverlust, psychomotorischer Hemmung und Verstimmung, sondern auch in negativen Selbstwahrnehmungen, Selbstbewertungen (Selbstvorwürfe, Schuldgefühle) und typischen depressiven Denkmustern – in einem Wort: in bestimmten Stellungnahmen des Patienten zu seiner primären Verfassung. Diese negativen Selbsteinschätzungen erhöhen ihrerseits – als self-fulfilling prophecies – die Wahrscheinlichkeit weiterer Versagenssituationen und tragen so zusätzlich zur Depressivität bei.
Ähnliche negativ-zirkuläre Prozesse oder Teufelskreise sind auch bei AngststörungenAngststörungenpersonales Selbstverhältnis gut bekannt, nämlich nach dem Muster: Auftreten physiologischer Stressmerkmale (Sympathikusaktivierung, Pulsfrequenzerhöhung etc.) → Wahrnehmung der körperlichen Symptome als „bedrohlich“ → katastrophisierende Kognitionen und Situationsbewertungen → erhöhter physiologischer Stress usw.
Beispiel
Patienten mit somatoformen SchmerzstörungenSomatoforme Schmerzstörungpersonales Selbstverhältnis setzen der Auffassung, ihr Schmerz könnte „seelisch bedingt“ sein, häufig entschiedenen Widerstand entgegen, da sie diese psychologische Interpretation als implizite Kritik oder gar versuchte Entlarvung interpretieren („Ich bin kein Simulant!“). In Reaktion darauf werden sie umso mehr darauf bedacht sein, sich selbst und die anderen von der „Echtheit“ der Schmerzen als körperlich begründet zu überzeugen. Um den wahrgenommenen impliziten Vorwurf zu entkräften, werden sie ihre Aufmerksamkeit erst recht auf die Symptome konzentrieren. Jeder Schmerz bedeutet dann nicht nur Leiden, sondern auch eine Bestätigung des Selbst, d. h., es kommt zu einer dysfunktionalen „Verschmelzung von Leiden und Selbstgefühl“(vgl. Leferink 2012).
Resümee
Das personale Selbstverhältnis beeinflusst sowohl die Krankheitssymptomatik als auch die Krankheitsverarbeitung. Unterschiedliche Stellungnahmen zur primären Störung wie etwa Akzeptanz, Einsicht, Distanzierung, Widerstand, Verleugnung, Krankheitsgewinn u. a. sind wesentliche förderliche oder einschränkende Faktoren für die Behandlung.
9.3.2
Paradigmatische Störungen des Selbsterlebens
Schizophrenie als basale Selbststörung
-
•
eine Schwächung des basalen leiblichen Selbsterlebens („disembodiment“,Stanghellini 2004; Fuchs 2005);
-
•
eine Entfremdung der selbstverständlichen sensomotorischen Funktionen des Leibes, also das ökologische Selbsterleben;
-
•
eine Störung des zwischenleiblichen Kontakts mit anderen;
-
•
schließlich, auf der Ebene des personalen Selbst, eine Störung der Abgrenzung von Ich und anderen.
Resümee
Die Schizophrenie lässt sich insbesondere in ihren prodromalen Stadien als eine Schwächung des basalen Selbst auffassen, die zunächst das leibliche, ökologische und soziale Selbsterleben betrifft, dann aber auf der Ebene des personalen Selbst auch zu Störungen der Ich-Demarkation und der Perspektivenübernahme führt.
Depression als affektive Selbststörung
Resümee
Die schwere Depression lässt sich als affektive Selbstentfremdung auffassen, die primär die leibliche Vitalität ebenso betrifft wie die emotionale Resonanz mit der Umwelt. In der Folge kann es zu einer Störung des reflexiven Selbsterlebens bzw. der Perspektivenübernahme kommen, die sich im depressiven Wahn manifestiert.
Fragmentierung der narrativen Identität bei Borderline-Persönlichkeiten
Resümee
Bei Borderline-Persönlichkeiten führt die basale affektive Instabilität nicht nur zu einer Spaltung von Selbstzuständen und Selbstanteilen, sondern darüber hinaus zu einer Fragmentierung der narrativen Identität. Sie äußert sich u. a. in Gefühlen der Leere und Entfremdung, mangelnder Kohärenz des Lebensentwurfs und Auffälligkeiten des autobiografischen Gedächtnisses.
9.3.3
Störungen der sozialen Wahrnehmung und Intersubjektivität
„Vermutlich gibt es keine Verhaltensweise, die nicht unter irgendwelchen äußeren Bedingungen als normal und keine, die nicht in irgendeinem situationalen Kontext als abnorm gewertet würde.“
Glatzel (1977: 16)
Störungen der nonverbalen Kommunikation im Autismus („hypomentalizing“)
Merke
Bei autistischen Störungen kommt es zu einer Mentalisierungsstörung im Sinne eines Hypomentalisierens, wobei normalerweise verständliche und informative, insbesondere nonverbale Signale anderer nicht angemessen verstanden oder überhaupt nicht als soziale Signale wahrgenommen werden.
Erhöhte Zuschreibungstendenz im Wahnerleben („hypermentalizing“)
„Der Wahn teilt sich in Urteilen mit. Nur wo gedacht und geurteilt wird, kann ein Wahn entstehen. Insofern nennt man Wahnideen die pathologisch verfälschten Urteile.“
Jaspers (1913: 80)
„Das Ich ist beim Wahn fast immer in den Mittelpunkt gerückt. Zwar gibt es weniger ichbetonte, doch kaum ganz unegozentrische, das eigene Schicksal nicht berührende Bedeutungserlebnisse oder Wahneinfälle (…). Wirklich ‚objektive‘ Wahnbildungen, denen jede persönliche Beziehung zum Wahninhalt fehlt, wurden bei (schizophrenen) Wahnkranken nicht gefunden.“
Huber und Gross (1977: 145)
Merke
Bei wahnhaftem Erleben kommt es zu einer Mentalisierungsstörung im Sinne eines Hypermentalisierens, wobei Handlungen anderer Personen in übersteigertem Maß als sozial informativ wahrgenommen werden und für den wahnhaft Erlebenden eine besondere Bedeutung entfalten („apophäner Bedeutungswandel“).
9.4
Fazit und Ausblick
Literaturauswahl
Fischer and Tangney, 1995
Fuchs, 2012c
Gallagher, 2011
Leary and Tangney, 2005
Markowitsch and Welzer, 2005
Mead, 1934
Neisser, 1988
Rochat, 2009
Stern, 1998
Vogeley, 2016a