Definition und Basisinformation
Die Aufgabe, den Körper vor pathogenen und opportunistischen Mikroorganismen zu schützen, wird vom Immunsystem wahrgenommen. Unter Berücksichtigung funktioneller Gesichtspunkte werden mehrere miteinander kooperierende Kompartimente unterschieden:
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die natürliche Resistenz an den Grenzflächenorganen Haut, Respirationstrakt, Gastrointestinaltrakt, Urogenitaltrakt (physikalische, chemische und biologische Mechanismen),
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unspezifische zelluläre und humorale Immunmechanismen (Granulozyten, Monozyten/Makrophagen, natürliche Killerzellen, Komplementsystem, Akute-Phasen-Proteine, Interferone),
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das spezifische Immunsystem (T-/B-Lymphozyten und ihre Effektorzellen, Antikörper).
„Physiologische Immundefizienzen” finden sich in der Neonatalperiode (Unreife des T-Lymphozyten-Systems, relativer Antikörpermangel) und im Alter (Thymusinvolution mit verminderter Hautreaktion vom Spättyp, verminderter primärer Antikörperantwort, Autoimmunität, monoklonale Gammopathien).
Die seltenen
primären Immundefekte werden meist im frühen Kindesalter klinisch manifest und deshalb vom Pädiater diagnostiziert und behandelt. Der Internist wird am häufigsten mit dem selektiven IgA-Mangel (Häufigkeit 1:300–2000) konfrontiert. Da mehr als 50% der Patienten symptomfrei sind (30% haben vermehrt respiratorische, 10% gastrointestinale Infektionen), handelt es sich in vielen Fällen um einen Zufallsbefund (
1).
Das
variable Immundefektsyndrom (CVID = common variable immunodeficiency) wird als erworbenes primäres Immundefektsyndrom aufgefasst. Bislang wurden mehrere Gendefekte identifiziert, die zu dem Krankheitsbild führen können. Das variable Immundefektsyndrom ist durch eine meist ausgeprägte Hypogammaglobulinämie mit Neigung zu bakteriellen Infekten gekennzeichnet. Die Erstmanifestation des humoralen Immundefekts liegt meist entweder im Kindesalter oder in der 2. und 3. Lebensdekade (
2–5). Die Prävalenz des Immundefekts liegt bei ca. 1:3000–1:30.000. Die Diagnose kann gestellt werden, wenn eine Infektneigung besteht, mindestens zwei Immunglobulinklassen vermindert sind und die Impfantwort reduziert ist. Außerdem sollte ein sekundärer humoraler Immundefekt (s.u.) ausgeschlossen sein. Das variable Immundefektsyndrom umfasst eine heterogene Gruppe von Patienten, bei denen die erweiterte Immundefektdiagnostik unterschiedliche Störungen erkennen lässt (abnorme T-B-Kooperation, Ig-Sekretionsstörungen u.a.).
Weit häufiger sind im Erwachsenenalter
sekundäre Immundefekte, die im Rahmen von anderen Erkrankungen erworben werden. Sie können sowohl das unspezifische als auch das spezifische Immunsystem betreffen. Man unterscheidet folgende Gruppen:
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Infektionen: HIV und andere Viren (Masern, Röteln, CMV, EBV), Bakterien (Tbc), Parasiten (Malaria, Leishmaniose, Trypanosomiasis, Schistosomiasis).
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Maligne Erkrankungen und Erkrankungen der Hämatopoese: fortgeschrittene solide Tumoren, multiples Myelom, Makroglobulinämie Waldenström, andere Non-Hodgkin-Lymphome, Morbus Hodgkin, Leukosen, Myelodysplasien, aplastische Anämie, Agranulozytose. Das Aspleniesyndrom bei Sichelzellerkrankung ist eine Indikation zur Pneumokokken-, Meningokokken- und Haemophilus-influenzae-Typ-b-Impfung (L1).
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Stoffwechselstörungen: Unter- und Überernährung, schwere konsumierende Erkrankungen, Zinkmangel, z.B. im Rahmen der Hämodialyse, ausgeprägter renaler und enteraler Eiweißverlust, Diabetes mellitus, Morbus Cushing, Verbrennung und Polytrauma, Urämie, chronischer Alkoholabusus mit Leberzirrhose.
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Unerwünschte Nebenwirkungen therapeutischer Maßnahmen: immunsuppressive Behandlung bei Autoimmunerkrankungen und nach Organtransplantation, Chemotherapie, Strahlentherapie, Intensivmedizin, Chirurgie, Splenektomie (Cave: OPSI = overwhelming postsplenectomy infection).
Bei elektiver Splenektomie müssen die Patienten 1 bis 2 Wochen präoperativ eine Pneumokokken-, Meningokokken- und Haemophilus-influenzae-Typ-b-Impfung erhalten. Bei nicht-elektiver Splenektomie kann auch eine unmittelbar postoperative Impfung erfolgreich sein.
Symptome
Auf primäre oder sekundäre Immundefekte können folgende Symptome hinweisen: Erkrankungen durch opportunistische Erreger, polytope bzw atypische Lokalisation einer Infektion, protrahierter Verlauf einer Infektion und rezidivierende und schwere Infektionen. Neben den Infekten treten bei Immundefekten aber auch gehäuft Autoimmunerkrankungen, granulomatöse Erkrankungen, Ekzeme, Lymphoproliferationen und Darmentzündungen auf. Die typischen Symptome wurden in der AWMF-S2-Leitlinie „Diagnostik von primären Immundefekten” zusammengefasst und genauer beschrieben (
L1).
Diagnose
Die Diagnose bei primären Immundefektsyndromen wird bei entsprechender klinischer Symptomatik durch pathologische Befunde in der Immundefektdiagnostik gesichert. Dabei muss eine Grunderkrankung, die mit einem sekundären Immundefekt einhergeht, ausgeschlossen werden.
Ein sekundärer Immundefekt ist anzunehmen, wenn eine Grundkrankheit gesichert ist, für die bekannt ist, dass ein Immundefekt durch die Krankheit selbst oder durch die therapeutischen Maßnahmen induziert werden kann.
Eine Immundefektdiagnostik ist hier insoweit notwendig, wie das therapeutische Handeln durch das Ausmaß des Immundefekts bestimmt wird (z.B. Neutrophilenzahl bei Immunsuppression, Immunglobulinkonzentrationen im Serum vor Substitution mit Immunglobulinen bei humoralem Immundefekt, CD4-Zellzahl bei HIV).
Diagnostik
Basisdiagnostik
Basisdiagnostik (bei klinischem Verdacht, ohne gesicherte Grunderkrankung):
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Anamnese (Art, Dauer und Häufigkeit der Infekte, Impfanamnese, Familienanamnese, Risikoverhalten und Risikofaktoren bezüglich HIV-Infektion),
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körperliche Untersuchung,
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Röntgenuntersuchung des Thorax, Sonographie des Abdomens,
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kleines Blutbild und Differenzialblutbild,
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Serumeiweißelektrophorese, bei pathologischem Befund Immunfixationselektrophorese,
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quantitative Immunglobulinbestimmung (IgG, IgA, IgM),
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Testung auf HIV-Antikörper (Einwilligungspflicht beachten!),
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Komplementanalyse (orientierende Untersuchung: CH50, C3, C4).
Nur pathologische Befunde mit klinischem Korrelat oder eindeutige klinische Zeichen einer Immundefizienz bei negativen Befunden rechtfertigen eine weiterführende spezielle Diagnostik (
6). Die Indikation ist durch einen Spezialisten zu stellen. Die Interpretation der Daten ist oft schwierig. Ungezielte und unkritisch interpretierte „Immunstatuserhebungen” führen häufig zu Fehldiagnosen und belastenden und teuren Anschlussuntersuchungen.
Spezielle Diagnostik
IgG-Subklassen:
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Quantitative Immunglobulinbestimmung von IgE.
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Bestimmung spezifischer Antikörpertiter, CMV, EBV, HBV, HSV. Antikörpertiter, die aufgrund der Anamnese (Infektionen, Impfungen) zu erwarten sind, AB-Isohämagglutinine.
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Quantitative Immunphänotypisierung mononukleärer Zellen.
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Untersuchung von Lymphozytenfunktionen in vitro (Proliferationsverhalten, Zytotoxizitätsassays, Zytokinproduktion, Immunglobulinproduktion u.a.).
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Granulozytenfunktionsuntersuchungen (Adhärenz, Migration, komplementabhängige Phagozytose, Produktion reaktiven Sauerstoffs, Bestimmung von Adhäsionsmolekülen u.a.).
Diagnostik bei HIV: siehe Beitrag L 13.
Für weiterführende spezielle Diagnostik von Immundefekten sollte im Einzelfall ggf. Kontakt mit einem immunologischen Referenzzentrum aufgenommen werden (Kontaktadressen z.B. unter
www.immunologie.de).
Therapie
Die Möglichkeiten der Immunsubstitution und Immunstimulation sind bis heute sehr begrenzt. Deshalb kommt der Infektprophylaxe ein hoher Stellenwert zu. Zur
Infektprophylaxe gehören:
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physikalische Maßnahmen,
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Vermeidung der Exposition (der Patient muss entsprechend aufgeklärt werden),
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ggf. Impfungen bei den Kontaktpersonen,
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selektive Darmdekontamination,
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Umkehrisolierung,
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aktive Immunisierung (mit eingeschränkter Effektivität muss gerechnet werden, bei schwerwiegender T-zellulärer Immundefizienz ausschließlich Totvakzine verwenden; 7, 10, 11).
Bei Infektionen muss die antibiotische Therapie das besondere Keimspektrum (Opportunisten, fakultativ pathogene Keime) berücksichtigen. Die Diagnostik zum Keimnachweis muss schnell und, falls nötig, invasiv (z.B. Bronchoskopie bei Pneumonie) durchgeführt werden (s. Beitrag B 26.3).
Substitution mit Immunglobulinen
Zur Therapie des IgG-Mangels stehen mehrere Immunglobulinpräparationen zur Verfügung, die definierte Qualitätskriterien erfüllen müssen: Virussicherheit, definierte Verteilung von IgG-Subklassen sowie normale Fc-Funktionen des Immunglobulinmoleküls. Es besteht eine gesicherte Indikation für die prophylaktische oder therapeutische Gabe bei Antikörpermangelsyndrom (
Empfehlungsgrad A; 8;
Empfehlungsgrad B; 9). Die Applikation der Immunglobuline kann entweder i.v. oder s.c. erfolgen. Die s.c. Applikation ist so gut verträglich, dass sie nach Training vom Patienten selbst ohne ärztliche Aufsicht durchgeführt werden kann. Eine Substitution allein nach Maßgabe der Immunglobulinkonzentration im Serum ohne klinische Immundefekterkrankung ist
nicht indiziert.
Bei primären Immundefekten kommt im Erwachsenenalter die Fortführung der Substitution der seit der Kindheit bestehenden Antikörpermangelsyndrome mit 300–400 mg/kg KG i.v. alle 3 bis 4 Wochen infrage. Die gleiche Dosierung gilt für das CVID-Syndrom. Es wird zumindest initial eine IgG-Serumkonzentration von mehr als 6 g/l angestrebt.
Bei sekundären Immundefekten ist die Indikation bei klinisch relevanten Antikörpermangelsyndromen im Rahmen maligner Lymphome und des multiplen Myeloms gesichert. Eine Substitution mit 10–20 g i.v. Immunglobulinen monatlich hat sich zur Infektprophylaxe bewährt.
Bei Patienten mit ausgeprägtem IgA-Mangel besteht bei Immunglobulinsubstitution die Gefahr der Anaphylaxie durch Anti-IgA-Antikörper, die vorbestehen oder durch Substitution induziert werden können.
Hämatopoetische Wachstumsfaktoren
Eine Therapie mit G-CSF oder GM-CSF verkürzt die Dauer der durch Chemotherapie induzierten Neutropenie. Die Indikation wird in den entsprechenden Chemotherapieprotokollen oder individuell festgelegt (s. Beitrag B 24).
Autorenadressen
Prof. Dr. med. Torsten Witte
Klinik für Immunologie und Rheumatologie
Zentrum Innere Medizin
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1
30625 Hannover
Prof. Dr. med. Dietrich Peest
Klinik für Hämatologie, Hämostaseologie, Onkologie und Stammzelltransplantation
Zentrum Innere Medizin
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1
30625 Hannover
Prof. Dr. med. Matthias Stoll
Klinik für Immunologie und Rheumatologie
Zentrum Innere Medizin
Medizinische Hochschule Hannover
Carl-Neuberg-Str. 1
30625 Hannover